Tahir Güleç (Taekwondo Özer) hat sich für die Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro direkt über die Weltrangliste qualifiziert.
Der Sportsoldat bei der Bundeswehr-Sportfördergruppe in Sonthofen und ehemalige Schüler der Nürnberger Bertolt-Brecht-Schule, einer Eliteschule des Sports, ist nach seiner Schwester Sümeyye und seinem Schwager Daniel Manz bereits der dritte Olympia-Teilnehmer aus dem Güleç-Manz-Clan.
Sümeyye war 2008 und 2012 dabei, ihr Ehemann Daniel 2008.
Taekwondo Özer stellt somit bei der dritten Olympiade in Folge Sportler in dieser mit einer extrem strengen Teilnehmerbegrenzung belegten Sportart (2008 konnten sich vier Deutsche qualifizieren, 2012 zwei).
Aber auch Tahir dürfte die besondere Atmosphäre des sportlichen Mega-Ereignisses nicht ganz unbekannt sein. Er war 2010 einer der vier deutschen Taekwondokas bei den ersten Olympischen Jugendspielen.
Nach dem vom 05. bis 06. Dezember in Mexiko-Stadt ausgetragenen Grand-Prix-Finale wurde Bilanz gezogen. Die sechs zu diesem Zeitpunkt in der Weltrangliste am höchsten positionierten Sportler unterschiedlicher Nationen erhielten je ein Olympia-Ticket.
Den Sportlern, denen die direkte Qualifikation nicht gelungen ist, bleibt noch der Weg über die kontinentalen Qualifikationsturniere. Das europäische findet am 16. Januar in Istanbul statt. In der Sportart Taekwondo darf allerdings jede Nation nicht mehr als zwei Damen und zwei Herren nach Rio schicken. Diese strenge Quote kennt nur eine Ausnahme: Die direkte Qualifikation über die Weltrangliste. Im Idealfall könnten so für ein Land vier Damen und vier Herren, also ein Sportler pro olympische Gewichtsklasse, teilnehmen.
Volker Wodzich (TG Allgäu) war als dritter Deutscher mit der Chance auf die direkte Qualifikation nach Mexiko geflogen, fand sich aber nach dem Grand-Prix-Finale nur auf Platz acht der Weltrangliste wieder. Da sich neben dem bayerischen Qualifikanten Tahir Güleç auch der Nordrhein-Westfale Levent Tuncat (Leopard Lengerich) bereits einen Olympia-Startplatz gesichert hat, bleibt Volker Wodzich der Weg über das europäische Qualifikationsturnier verwehrt.
Von den deutschen Damen konnte sich keine direkt qualifizieren. Das Spitzentrio, das aus Anna-Lena Frömming, Tahirs Schwester Rabia Güleç (beide Taekwondo Özer) und Yanna Schneider (Sportwerk Düsseldorf) besteht, konkurriert nun um die Quotenplätze. Denn nur zwei werden in der Türkei mit den anderen noch nicht qualifizierten Sportlerinnen der europäischen Taekwondo-Elite um den Einzug ins Finale kämpfen. Das ist zumindest die aktuelle offizielle Lesart, man könnte die Ausschreibungsunterlagen aber auch so interpretieren, dass mehrere deutsche Damen teilnehmen dürfen, sich aber nicht mehr als zwei qualifizieren können. Lediglich für die erst- und zweitplatzierten Athleten jeder Gewichtsklasse erfüllt sich der Traum von der Olympia-Teilnahme.
Anna-Lena Frömming gilt für Istanbul als gesetzt. Mit nur 20 Jahren hat sie sich durch viel Trainingsfleiß und konstante Wettkampfleistungen in ihrer Gewichtsklasse bis auf Platz 7 der Weltrangliste hochgearbeitet. Zwischenziel erreicht! – Anmerkungen zu einigen Aspekten eines schwierigen Qualifikationsverfahrens – Bild 06Wenn es nach den sportlichen Erfolgen geht, dem einzigen Maßstab, der zählen sollte, wäre Rabia Güleç (21 und ebenfalls auf Platz 7 der Weltrangliste) ohne Zweifel auch in der Türkei dabei. Sie konnte sich bisher zwei WM- und sechs EM-Medaillen sichern, darunter den EM-Titel bei der Jugend 2009 sowie bei den Senioren WM-Bronze 2013 und EM-Bronze 2014. Allein in den letzten beiden Jahren stieg sie bei Weltranglistenturnieren 14-mal auf das Siegertreppchen, davon siebenmal auf Platz eins.
Ihre Konkurrentin Yanna Schneider stand im gleichen Zeitraum achtmal auf dem Podest, „nur” einmal davon ganz oben. Die 19-jährige Jugend-Weltmeisterin von 2012 befindet sich auch bei den Senioren auf dem Weg an die Weltspitze (derzeit Platz 12), konnte aber in dieser Altersgruppe noch keine wichtige Medaille erkämpfen.
Ganz sicher haben es sich alle drei verdient, die Qualifikations-Chance zu erhalten. Der Weltverband WTF (World Taekwondo Federation) lässt dies aber nicht zu und erzwingt die Auswahl von zwei der drei Kandidatinnen. Die objektiven Kriterien sprechen eine klare Sprache – Anna-Lena befindet sich aktuell auf Platz 11, Rabia auf Platz 16 und Yanna auf Platz 21 der Weltrangliste bei den olympischen Gewichtsklassen.
Nun spielen aber bei solchen Entscheidungen gelegentlich auch politische oder persönliche Gesichtspunkte eine gewisse Rolle. Rabia gilt im Vergleich zu Yanna als schwierig und weniger diszipliniert. Dies soll in der Vergangenheit dem Bundestrainer schon viel Geduld und starke Nerven abverlangt haben. Zudem wäre Rabia die dritte mögliche Olympiateilnehmerin aus einem Verein. So viel Erfolg stößt nicht nur auf Gegenliebe, auch Neider werden auf den Plan gerufen.
Und dann ist da noch die „Grande Dame” des deutschen Taekwondo, Helena Fromm. Sie sorgte in London für die erste und bisher einzige Olympia-Medaille bei den deutschen Taekwondo-Damen. Ein Mitte 2014 von ihr lancierter Presseartikel brachte Unruhe in die bis dahin (fast) heile Welt der beiden unbequemen Schwestern Rabia und Sümeyye. Diese standen unangefochten und konkurrenzlos an der Spitze der nationalen Ranglisten. Sümeyye war unmittelbar nach der Geburt ihrer Zwillinge als dreifache Mutter wieder in den Wettkampfsport zurückgekehrt und hatte sich ihren Platz in der internationalen Spitze eindrucksvoll zurückerobert. Im ersten Halbjahr 2014 hat sie sich mehr Weltranglistenpunkte erkämpft als jede andere deutsche Frau und hatte durchaus Aussichten, sich direkt über die Weltrangliste zu qualifizieren. Auch bei ihrer Schwester Rabia lief es rund. Da ließ Helena Fromm die Bombe platzen und meldete ihren Anspruch an, als Olympia-Heldin auch ohne vorherige Bewährung durch erfolgreiche Turnierstarts am Qualifikationsturnier teilnehmen zu dürfen. Seit der Geburt ihres ersten Sohnes hatte sie anders als Sümeyye eine Babypause eingelegt und wollte sich und ihrer Familie nicht die Belastung durch die häufigen Abwesenheiten zumuten. Den Traum von einer weiteren Olympia-Teilnahme wollte sie aber auch noch nicht aufgeben. Der Verband könne sie ja trotzdem nominieren – selbst im Fall der direkten Qualifikation einer Mannschaftskollegin (Rabia, die in der gleichen olympischen Gewichtsklasse startet).
Sümeyye wurde dann Ende 2014 von den Verantwortlichen der Deutschen Taekwondo Union „ausgebootet” – wegen unüberbrückbarer Differenzen, genauer gesagt unterschiedlicher Auffassungen über das Mitspracherecht von Sportlern in Bezug auf ihre Turnierteilnahmen (man könnte also auch von unterschiedlichem Demokratieverständnis sprechen, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass in der Arbeitswelt demokratische Strukturen nicht unbedingt gang und gäbe sind). Aber das ist eine andere Geschichte und führt jetzt an dieser Stelle zu weit.
Helena musste inzwischen wegen einer Knieverletzung operiert werden und ist damit aus dem Rennen für Istanbul. Dafür ließ Yanna Schneider kürzlich über die regionale Presse verlautbaren, dass sie sich Chancen auf die Nominierung ausrechnet.
Und auch Helena meldet sich wieder zu Wort. Sie erinnert in einem neuen Pressebericht an das Jahr 2008, als Pınar Budak statt der verletzen Helena zum Qualifikationsturnier (das übrigens ebenfalls in Istanbul stattfand) geschickt wurde und dort einen Startplatz erkämpfte. Dieser wurde dann aber Helena zugeteilt. Pınar klagte, die DTU gewann. Nach diesem einschneidenden Erlebnis hängte Pınar ihre sportliche Karriere an den Nagel.
Wer nun denkt, die WTF hätte einer solchen Vorgehensweise mit der Qualifikation über die Weltrangliste einen Riegel vorgeschoben und die Situation zugunsten der besten Athleten geändert, täuscht sich. Helena hat vollkommen recht: Das jahrelange Rennen um Weltranglistenpunkte sichert keinem einzigen Sportler den Startplatz, sondern vielmehr dem NOK, dem Nationalen Olympischen Komitee. Damit liegt alle Macht weiterhin in den Händen der Verbände. Die Deutsche Taekwondo Union (DTU) entscheidet also nach wie vor, wer an Olympischen Spielen teilnimmt und wer nicht. Verletzte oder auch unliebsame Sportler können in den Monaten bis zu den Spielen noch ausgetauscht werden. Dazu muss nicht einmal ein „gleichwertiger” Ersatz gefunden werden. Einmal im ersten Halbjahr 2016 unter den Top 20 reicht vollkommen aus. Lediglich die Gewichtsklasse, in der ein Startplatz erkämpft wurde, darf nicht mehr gewechselt werden.
Seit einigen Tagen befindet sich das Damen-Team in Thailand bei einem Trainingslager. Voraussichtlich nach der Rückkehr kurz vor Weihnachten wird Damen-Bundestrainer Carlos Esteves dem Leistungssportausschuss der DTU seinen Nominierungsvorschlag vorlegen.
Hoffen wir, dass die DTU-Verantwortlichen sich vernünftig, objektiv und fair entscheiden und sich dabei von Weisheit und Weitsicht leiten lassen.
(13.12.2015 Alfred Castaño)