Manchmal ereignen sich unwahrscheinliche Zufälle und seltene Ereignisse treten gehäuft auf – in diesem Fall der Wechsel eines Topathleten zu unserem Verein: Nur kurz nachdem uns Daniel Manz seinen Entschluss mitgeteilt hatte, zu uns zu wechseln, erfuhren wir von Anna-Lena Frömming, dass ihr von ihrem bisherigen Verein gekündigt worden war und sie ebenfalls zu TaeKwonDo Özer wechseln wolle.
Anna-Lena hat im Alter von sechs Jahren in ihrer Heimatstadt Herdecke beim TuS Ende mit dem Taekwondo-Training begonnen und zeigte schnell außergewöhnliches Talent. Sobald sie zwölf Jahre alt geworden war und an deutschen Meisterschaften teilnehmen konnte, holte sie sich alle Titel der Gewichtsklassen, bei denen sie antreten durfte – bis heute insgesamt elf.
Ihre sportliche Karriere weist viele Gemeinsamkeiten mit der von Rabia Güleç auf, mit der sie sehr gut befreundet ist. Da Rabia immer eine Gewichtsklasse höher als Anna-Lena kämpfte, kreuzten sich ihre Karrieren nie, sondern verliefen erstaunlich parallel, auch auf internationaler Ebene. So konnte Anna-Lena neben 17 A‑Class-Medaillen, darunter neun goldene, bei den Kadetten EM-Silber, bei der Jugend A den Europameister-Titel und WM-Bronze sowie bei den Junioren EM-Bronze holen. Damit wurde sie zu einer der erfolgreichsten Nachwuchskämpferinnen der Nordrhein-Westfälischen Taekwondo Union (NWTU) unter dem NWTU-Verbandstrainer Aziz Acharki.
Im Oktober 2012 wechselte Anna-Lena zum Verein des Damen-Bundestrainers Carlos Esteves im benachbarten Iserlohn, um mit hochkarätigen Trainingspartnerinnen wie Helena Fromm, Melanie Hartung und Tabea Wenken ihre ehrgeizigen Pläne weiter voranzutreiben.
Nach EM-Bronze bei den Junioren erzielte sie dann genau wie Rabia ihren bislang größten Erfolg mit dem Gewinn der Bronzemedaille bei den diesjährigen Weltmeisterschaften der Senioren.
Trotz dieses gemeinsamen Erfolges führten die unterschiedlichen Charaktere Anna-Lenas und ihres Trainers wohl zu letztendlich zu großen Meinungsverschiedenheiten. Die Arbeit eines erfolgreichen Sportler-Trainer-Gespanns ist von absolutem gegenseitigen Vertrauen abhängig. Ist dies nicht mehr gegeben, ist es sinnvoller sich zu trennen, was folgerichtig auch geschehen ist.
Mit dem Vereinswechsel erfolgt auch ein Verbandswechsel und die BTU kann sich über eine weitere Spitzensportlerin mit hervorragenden Zukunftsaussichten freuen. Aber des einen Freud ist manchmal auch des anderen Leid und die NWTU verliert eine ihrer besten Taekwondo-Kämpferinnen.
Anna-Lenas großes Ziel ist natürlich die Teilnahme an den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro. Mit dem Gewinn der Bronze-Medaille bei der diesjährigen Weltmeisterschaft in Mexiko hat sie einen wichtigen Schritt dorthin gemacht und wertvolle Punkte für einen guten Platz auf der Weltrangliste gesammelt. Durch die Platzierung unter den ersten sechs können sich die Sportler zukünftig in jeder der acht Gewichtsklassen direkt für die Olympischen Spiele qualifizieren. Dies ist die einzige Möglichkeit, die Teilnehmerzahl einer Nation zu erweitern. Über die kontinentalen Qualifikationsturniere können sich weiterhin nur zwei weibliche und zwei männliche Athleten eines Landes qualifizieren. Zugelassen werden dazu nur Nationalteams, die die Quote von je zwei Athleten bei den Damen und den Herren noch nicht über die direkte Qualifikation erreicht haben. Neben Tahir, Rabia, Sümeyye, Katharina und Daniel hat mit Anna-Lena nun auch ein sechstes Mitglied von TaeKwonDo Özer nicht nur bereits einen guten Startplatz im Rennen um die Top-Rankings, sondern auch das Potenzial, sich bis 2016 unter den weltbesten Athleten zu behaupten. Nach Anna-Lenas Vereinsbeitritt kämpfen alle drei Deutschen, die bei der WM von Mexiko eine Medaille holen konnten, für TaeKwonDo Özer. Ohne die Clubs der vielen platzierten Koreaner im Einzelnen zu kennen, liegt die Vermutung nahe, dass derzeit weltweit nicht allzu viele Vereine drei aktuelle WM-Medaillengewinner unter ihren Mitgliedern haben dürften.
Neben der sportlichen Bedeutung hat ihr Wechsel in gewisser Weise auch einen integrationspolitischen Aspekt: Während bundesweit große Anstrengungen unternommen werden, mit öffentlich geförderten Programmen mehr Migranten in die Sportvereine zu bringen, helfen uns Anna-Lena und Daniel bei unserem ganz eigenen „Minderheiten-Problem”: Mit dem Vereinsbeitritt der beiden hat sich die Anzahl unserer, soweit dies überhaupt feststellbar ist, rein deutschstämmigen Mitglieder glatt verdoppelt!
Wie es heißt, soll Anna-Lena „schwierig” sein. Aber erstens scheint es manchen Menschen ein Grundbedürfnis zu sein, Gerüchte zu verbreiten, und zwar oft auch ohne den berühmten wahren Kern. Und zweitens ist jeder Mensch anders und man kann nicht erwarten, dass alle sich so verhalten, wie man es gerne hätte. Man wird im Leben immer mit Personen zu tun haben, die einem liegen, aber auch mit solchen, mit denen man nicht ganz so gut klarkommt.
Als Verein kann man versuchen, alle seine Mitglieder „auf Linie” zu bringen, oder man verfährt mehr nach dem vielstrapazierten aber selten umgesetzten Motto „wir sind eine Familie” und akzeptiert jeden so wie er ist, mit seinen Eigenheiten und Macken, auch wenn dies schon mal zu eigentlich vermeidbaren Konflikten und Problemen führt. Menschen, die von traditionellen Werten und Erziehungsmethoden geprägt sind, tun sich mit der zweiten Variante sicherlich schwer.
Man könnte heutzutage durchaus den Eindruck gewinnen, dass die typisch deutschen Tugenden allgemein vom Aussterben bedroht sind, ganz gewiss aber sind in unserem Verein eigenwillige und „schwierige” Charaktere keine Seltenheit – vielleicht sind wir gerade deswegen (oder doch trotz dessen?) so erfolgreich.
Der Weg zum sportlichen Erfolg ist bekanntlich mit harter Arbeit und viel Schweiß gepflastert, aber man kann auf ihm – entsprechendes Talent und etwas Glück vorausgesetzt – nicht nur mit Disziplin, Pflichtbewusstsein, Einordnung und Zuverlässigkeit ans Ziel kommen, obwohl diese Eigenschaften es einem normalerweise leichter machen. Auch mit Individualität, Eigensinn und einem starken Willen („ich muss meinen eigenen Weg gehen”) lässt er sich erfolgreich beschreiten.
Dass Anna-Lena einen starken Charakter hat, genau weiß was sie will und mit großer Entschlossenheit bereit ist, Außergewöhnliches zu leisten, um ihre Ziele zu erreichen, hat sie im April dieses Jahres gezeigt, als sie unmittelbar nach der Rückkehr von der U21-EM, bei der sie sich die Bronzemedaille erkämpft hatte, erfolgreich ihre Abiturprüfungen am Gymnasium ihrer Heimatstadt ablegte.
Nach einer Pause, bei der sie sich auf ihre sportliche Karriere und ihre Bundeswehrgrundausbildung konzentrieren möchte, plant sie „Internationales Management für Spitzensportler” an der Hochschule Ansbach zu studieren.
Wir freuen uns auf Anna-Lena, heißen sie in unseren Reihen willkommen und sind sicher, dass sie bei uns das richtige Umfeld und die besten Voraussetzungen vorfindet, um sich wohlzufühlen und weitere Spitzenerfolge zu erzielen.
(17.10.2013 Alfred Castaño)