Während der allgemeinen Freude und Begeisterung über Tahirs geschichtsträchtigen Sieg äußerte Taekwondo-aktuell-Redakteurin Sibylle Maier gegenüber unserem Chefcoach Disziplinbundestrainer Özer Güleç: „Eine Seite der nächsten Ausgabe ist für euch reserviert, da könnt ihr schreiben, was ihr wollt.” Ein Angebot, das man sich nicht entgehen lassen darf, auch wenn zur Zeit nicht nur Tahirs Welt Kopf steht, das Handy ununterbrochen klingelt, sich ein Termin an den anderen reiht und kaum Zeit für ein Minimum an Schlaf bleibt. Genauso wie es für Tahir, den Verein und den deutschen Taekwondo-Sport wichtig ist, das seltene Interesse der Medien für eine üblicherweise unbeachtete Randsportart zu nutzen, so lange es noch vorhanden ist, ist es Ehrensache, einen Beitrag für die Taekwondo aktuell, das Magazin für alle, die diesen Sport kennen und lieben, und zwar nicht nur, wenn wir gerade einen Weltmeister haben, zu verfassen.
Ein ausführlicher Bericht über die Weltmeisterschaft war bereits am Morgen nach dem spätnächtlichen Triumph unseres WM-Helden auf der Vereins-Homepage zu lesen und mit Sibylle Maier und Peter Bolz waren zwei bewährte Berichterstatter in Mexiko vor Ort, um sicherlich kompetent in der Taekwondo aktuell über das alles überstrahlende Ereignis dieser Weltmeisterschaft zu informieren. Hiermit bot sich also die Gelegenheit, einmal nicht das Geschehen möglichst objektiv darzustellen, sondern bewusst subjektiv allerlei Gedanken in Zusammenhang mit diesem Erfolg niederzuschreiben. Ob dafür „eine Seite” ausreichen würde, war von Anfang an fraglich, deshalb gibt es hier die ausführliche Version, während in der Taekwondo aktuell eine Kurzfassung veröffentlicht wird. Vielleicht ist der Beitrag sogar etwas pathetisch oder gar „schwülstig” ausgefallen, wie eine Arbeitskollegin die Schreibweise eines Zeitungsreporters bezeichnete, der offensichtlich die Tragweite von Tahirs Erfolg erkannt hatte. Wahrscheinlich werden die meisten Menschen, denen es ziemlich egal ist, ob es einen deutschen Weltmeister im Taekwondo gibt oder nicht, das ähnlich sehen. Aber Tahir Güleç hat mit seinem historischen Sieg bei der Weltmeisterschaft 2013 den ersten Weltmeistertitel seit 18 Jahren für die Deutsche Taekwondo Union und den ersten WM-Titel überhaupt für die Bayerische Taekwondo Union geholt und damit eine sportliche Sensation von historischer Tragweite vollbracht. Da darf man durchaus etwas dicker auftragen, um diese großartige Leistung ins rechte Licht zu rücken.
Der selbe Reporter titelte „Tahir Gülec (20) krönt in Mexiko das Lebenswerk seines Onkels und Trainers”. Ein schöner Satz, mit dem der Autor den Anteil seines Onkels an Tahirs Erfolg betonen will. Auf den ersten Blick scheint er die Ereignisse in Mexiko damit durchaus angemessen zu bewerten, aber Insider werden sich daran erinnern, dass Özer Güleç einmal bei einem Interview sein Lebensziel so darlegte: „Ohne eine Olympiamedaille kann ich später im Grab meine Augen nicht schließen”. Obwohl der Weltmeistertitel die höchste Auszeichnung für einen Sportler ist – er hat sich als der Beste der ganzen Welt bewiesen, indem er jeden Gegner geschlagen hat – haben die Olympischen Spiele dieses besondere Etwas, nach dem jeder Sportler immer streben wird. Sei es die mythische Verklärung der Spiele mit seinen Ursprüngen in der Antike oder der lange Abstand von vier Jahren, der sehr viel Ausdauer während der Vorbereitung erfordert und nur wenige Teilnahmen im Laufe einer sportlichen Karriere zulässt oder ganz profan der gigantische massenmediale und kommerzielle Zirkus, der heute darum veranstaltet wird – eine olympische Medaille gilt als die Krönung jeder Sportler-Karriere.
Aber der Satz des Reporters trifft auch deshalb nicht auf unseren Chefcoach zu, weil er irgendwie beinhaltet, dass damit sein Lebenswerk vollendet sei, was selbst mit einer Olympia-Medaille nicht der Fall wäre. Özer Güleç lebt für Taekwondo, seine Gedanken kreisen Tag und Nacht um diesen Sport und seine Athleten. Und er denkt langfristig und in großen Dimensionen. Viele Wegbegleiter, Trainerkollegen und Konkurrenten haben Özer gratuliert, immer mit dem Tenor „Du hast dir das verdient” und sie hatten absolut recht. Der Meistertrainer Özer Güleç ist selbstverständlich der unermüdliche Motor hinter den vielen Erfolgen seiner Schüler mit unzähligen Titeln bei Deutschen Meisterschaften, vielen Europameistertiteln und jetzt dem höchsten Meistertitel, der vergeben wird, dem Weltmeistertitel.
Dieser wunderschöne Augenblick des Sieges im WM-Finale ist nur einer von vielen Triumphen, die er sich vorgenommen hat und für die er mit seinen Sportlern lange und hart arbeitet. Dabei ist ihm völlig klar, dass für so einen absoluten Spitzenerfolg wie den Gewinn des Weltmeistertitels sehr viele Faktoren zusammen kommen müssen. Die meisten Trainer und Sportler werden nie mit dem Gewinn des Weltmeistertitels oder einer olympischen Medaille belohnt, obwohl sie ihr Leben lang hart und intensiv dafür arbeiten. Um an der Spitze der Weltelite zu kämpfen, muss alles stimmen. Körperliche Gegebenheiten und Talent, Eigenschaften wie Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit, Schnelligkeit, Gesundheit, mentale Fähigkeiten und Ähnliches, die durch hartes Training, Fleiß und die richtigen Methoden optimiert werden können, aber auch schlecht oder gar nicht steuerbare Faktoren, wie Einflüsse durch Familie und Freunde, Unfälle, globale Ereignisse und nicht zuletzt Glück oder Zufall, je nachdem wie man es nennen mag.
Einem Trainer, der mir einmal gesagt hat, sein Sportler sei ein zweiter Servet Tazegül, habe ich geantwortet, dass es keinen zweiten Servet gäbe und dass dieser Mega-Erfolg wie ein Sechser im Lotto sei und dafür alles zusammenkommen müsse. Es gibt viele, die Talent haben und hart arbeiten, aber es trotz der besten Voraussetzungen nie bis ganz oben schaffen. Also ist ein solcher Erfolg nicht kalkulierbar – aber letztendlich ist er das doch, da nur wenn alle beeinflussbaren Faktoren möglichst nahe am Optimum sind, die Auswirkungen der nicht beeinflussbaren Faktoren so weit reduziert werden können, dass die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges hoch wird. Bei vielen Anläufen müsste dann rein statistisch irgendwann der große Wurf gelingen („der war jetzt einfach an der Reihe”). Die Aufgabe lautet also, alles so zu optimieren, dass der große Erfolg immer wieder in Griffweite gerückt wird. Dieses Heranführen eines Sportlers an die Weltspitze ist das, was Özer Güleç so gut beherrscht. Er hat sich von allen Schwierigkeiten, die er überwinden musste, von allen Problemen, Rückschlägen und Enttäuschungen nie davon abbringen lassen, hundert Prozent zu geben, um einen Sportler nach dem anderen herauszubilden, der das Potenzial hat, ganz oben um Europa- und Welttitel mitzukämpfen. Der konstante Griff nach dem Erfolg ist kein Zufall und Özer Güleç wird damit weitermachen. Das ist sein Lebenswerk.
Dass Tahirs Schwester Sümeyye trotz mehrerer Anläufe mit dem WM-Titel in Griffweite in so vielen Jahren (WM-Bronze 2005 und 2011) es nie geschafft hat, aber Tahir beim ersten Versuch bei den Senioren (nach WM-Silber 2010 in der Jugend) sofort erfolgreich war, wird wohl nach der anfänglichen Euphorie über den Erfolg dazu führen, dass Sümeyye sich einige Gedanken über die eigene sportliche Zukunft macht. Sie und ihr Mann Daniel Manz haben so lange und so hart für den höchsten Erfolg gearbeitet, dass er schon fast ein unerreichbarer Traum zu sein schien. Aber dann wurde für Tahir plötzlich doch all das wahr, wovon man geträumt hatte, was man sich vorgestellt hatte, von dem man immer wusste, dass man es schaffen kann. Das aber wegen irgendwelcher Kleinigkeiten doch nicht zur Realität wurde, so dass einem klar wurde, dass man sein Ziel vielleicht nie erreichen würde.
Nach Tahirs großem Sieg wird die ganze Familie Güleç-Manz einen Motivationsschub erhalten, es Tahir gleichzutun, und mit voller Kraft das Ziel angehen, mehrere Weltmeistertitel in eine Familie zu holen. So wie es die López-Geschwister vorgemacht haben, mit denen sie befreundet sind und deren „deutsche Ausgabe” sie schon längst geworden sind – die deutsche „Royal Family of Taekwondo”.
Rabia befindet sich sowieso schon in Griffweite zum Titel. Ihr Riesenerfolg bei dieser Weltmeisterschaft ging zwar angesichts des historischen Titelgewinns ihres Bruders fast unter, sie ist aber erst die achte deutsche Frau, die eine WM-Medaille bei den Senioren gewinnen konnte (Deutschland kann bisher 1 x Silber und 9 x Bronze verbuchen, wobei sowohl Sümeyye als auch Helena Fromm als einzige zweimal Bronze beigesteuert haben). Daniel hat sich ebenfalls wieder an der Weltspitze zurückgemeldet, wie er angesichts seiner diesjährigen Siege bei den Weltranglistenturnieren U.S. Open und Swiss Open eindrucksvoll bewiesen hat, auch wenn er seine Topform leider nicht mit einer Platzierung bei der WM unterstreichen konnte. Der jüngste Bruder, Malik (13), deutscher Meister 2012, hat in wenigen Wochen die Chance, bei der Kadetten-EM, für die er kürzlich nominiert wurde, seine erste Medaille auf Europa-Ebene zu holen. Und vielleicht wird sogar Sümeyye, der nach der Geburt ihrer Zwillinge nur die wenigsten ein Comeback als dreifache Familienmutter zutrauen, es noch einmal versuchen. Das nötige Kämpferherz dazu hat sie auf jeden Fall.
Für Tahir ist es jetzt extrem wichtig, auf dem Boden zu bleiben und nicht „abzuheben”. In Taekwondo-Kreisen ist er inzwischen ein Star. Er ist, zumindest in Nürnberg, auch öffentlich bekannt. Passanten raunen die Worte „Taekwondo” und „Weltmeister”, fremde Menschen wollen sich mit ihm fotografieren lassen und bitten um Autogramme. Er muss nun lernen, damit umzugehen.
Trotz seines jungen Alters ist er im letzten Jahr sehr gereift – seit Sümeyye nach den Olympischen Spielen eine Babypause eingelegt hat und sein Onkel konstatierte, dass jetzt Tahir die besten Voraussetzungen für eine Olympia-Teilnahme 2016 habe.
Er hat so fleißig wie nie trainiert, war disziplinierter als in der Vergangenheit, hatte sein großes Ziel immer im Kopf und bereitete sich auf jedes Turnier hochkonzentriert vor, wie man auch an seinen konstanten Erfolgen an der Weltspitze sehen kann. In diesem Jahr gewann er mit den U.S. Open, bei denen er bereits seinen mexikanischen Final-Gegner von Puebla besiegen konnte, sowie den Swiss Open, bei denen er unter anderem Aaron Cook im Halbfinale schlagen konnte, die beiden wichtigsten Weltranglistenturniere. Das gab ihm zusätzliches Selbstvertrauen und zeigte seiner Konkurrenz, dass mit ihm zu rechnen ist. Einen wichtigen Anteil an dieser positiven Entwicklung hat sein Schwager Daniel Manz. Er hat Tahir morgens zum Training bewegt, nicht mit Druck, sondern mit gutem Vorbild und „Kumpel-Motivation”, und er hat aus Tahir einen verantwortungsbewussteren und zielorientierteren Menschen gemacht.
Natürlich ist Tahir trotzdem ein junger Mann, der sein Leben auch genießen will. Er wird aber nun genau beobachtet und sein Leben ist komplizierter geworden. In Interviews versuchen Reporter ihm „interessante Informationen” zu entlocken, alles was er tut, wird jetzt strenger bewertet als früher. Kaum zurück aus Mexiko, hat er zu mir gesagt: „Ich will gar nicht berühmt werden!” Er würde es vorziehen, ein normales, von der Öffentlichkeit unbeachtetes Leben zu führen. Als Star einer Randsportart wird das sicher, zumindest nach dem Nachlassen des ersten großen Interesses, größtenteils möglich sein, aber er muss sich seiner Vorbildfunktion bewusst sein, ob er will oder nicht. Außerdem möchte er dauerhaft vom Taekwondo leben können, nicht unbedingt durch die Unterstützung von Sponsoren, sondern in erster Linie durch langfristige Erfolge. Mit dem WM-Titel, eventuell sogar mit mehreren, hat er beste Aussichten, nach seiner aktiven Karriere auch als Trainer erfolgreich zu sein und er hat in seinem Onkel den besten Lehrer, um das in sich aufzunehmen, was dafür wichtig ist. Zu einer solchen Karriere gehört aber auch ein gewisses Maß an Bekanntheit. Diese ist ebenfalls eine Grundvoraussetzung für das Interesse von Sponsoren. Aber Hauptsponsor ist und bleibt wohl die Bundeswehr, ohne deren Sportfördergruppe die allermeisten deutschen Taekwondo-Sportler keine Möglichkeit hätten, nach Schule und Ausbildung ihre Sportkarriere fortzusetzen.
Während in anderen europäischen Ländern Weltmeister fürstlich entlohnt werden und bei einem vernünftigen Umgang mit ihren Erfolgsprämien durchaus ausgesorgt haben, wird in Deutschland kein Taekwondo-Sportler reich. Man muss es als Musterbeispiel für eine erfolgreiche Integration bezeichnen, dass es für die türkischstämmigen Güleç-Geschwister selbstverständlich ist, für Deutschland zu kämpfen. Wenn nie etwas anderes im Raum stand, obwohl sie sicher jederzeit für die Türkei kämpfen könnten und dabei auch noch die Chance hätten, wirklich wohlhabend zu werden. In Tahirs Fall wäre jetzt genau das eingetreten. Wer hätte in dieser Situation nicht auch mal den Gedanken: „Hätte ich für die Türkei gekämpft, wäre ich jetzt reich…”
Auch wenn man sich von Ehre „nichts kaufen” kann, sollte man in Deutschland trotzdem darüber nachdenken, wie man wenigstens in dieser „Währung” klotzen und nicht nur kleckern könnte. Die Ehrungen für Tahir sind bisher auf die kommunale Ebene beschränkt geblieben, obwohl er der erste deutsche Taekwondo-Weltmeister aus Bayern ist. Es bleibt zu hoffen, dass erste Kontakte zur bayerischen Regierung dies noch ändern. Die Türkei, die nichts von diesem Erfolg hat, außer dem Stolz, dass ein türkischstämmiger Sportler Deutschland zu diesem langersehnten Titel verholfen hat, hat schnell und ganz selbstverständlich durch ihren höchsten politischen Vertreter in der Bundesrepublik, den türkischen Botschafter, Tahir und seine ebenfalls außergewöhnlich erfolgreiche Schwester Rabia gewürdigt. Auch dies ein Beispiel für das richtige Verständnis von Integration und völkerübergreifender Freundschaft. Tahirs und Rabias Erfolg kann „sowohl die deutschen wie auch türkischen Mitbürger mit großem Stolz erfüllen”, wie es der türkische Botschafter treffend formulierte.
Und dieser Satz trifft ebenso auf Servet Tazegül zu, der viel mehr Anerkennung von deutscher Seite verdient hätte. Bei den meisten Sportlern spielt die Nationalität sowieso keine große Rolle, wichtig ist der Charakter und das Verhalten eines Menschen. In Servet hat Tahir ein gutes Vorbild darin, wie man extrem erfolgreich und trotzdem bescheiden und „normal” bleiben kann.
„Normal” zu bleiben ist eine wichtige Voraussetzung, damit Tahir gemeinsam mit seinem Onkel erfolgversprechend am Fernziel Olympiasieg arbeiten kann. Die Randbedingungen dafür haben sich bereits zu seinen Gunsten geändert. Zwar werden auch zukünftig maximal zwei weibliche und zwei männliche Athleten pro Nation zugelassen, aber die ersten sechs der Weltrangliste brauchen nicht mehr an Qualifikationsturnieren teilzunehmen, sondern sind automatisch für die Olympischen Spiele qualifiziert. Ganz im Sinne von Tahir und der Arbeit seines Onkels Özer Güleç wird dadurch der langfristige Erfolg belohnt und der Faktor Glück/Zufall weiter minimiert.
Tahir wird mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit Deutschland 2016 in Rio vertreten. Ob dann dort beim Kampf um die Medaillen im entscheidenden Moment alles mitspielt und sein hartes Training sowie die Arbeit seines Onkels Früchte tragen, kann niemand vorhersehen, aber eines wissen wir schon jetzt: Wenn es soweit kommen sollte, haben Tahir und Özer Güleç es sich ganz gewiss verdient!
(28.07.2013 Alfred Castaño)