Viktoriia „Vika” Marchuk hat es in ihrem Leben nicht leicht gehabt. Die heute 22-jährige wurde mit nicht vollständig ausgebildeten Armen geboren. Auf Grund dieser Behinderung musste die kleine Viktoriia ohne Eltern in einem ukrainischen Waisenhaus aufwachsen.
Trotzdem ist Viktoriia nicht an ihrem Schicksal verzweifelt, sie ist eine selbstbewusste junge Frau geworden und hat sich hohe Ziele gesteckt. Sie möchte sich und anderen beweisen, dass sie trotz ihres Handicaps Außergewöhnliches erreichen kann.
Heute lebt und studiert sie in Kiew und betreibt den koreanischen Kampfsport Taekwondo. In dieser dynamisch-kraftvollen, körperlich sehr anspruchsvollen Sportart hat sie es bis zur ukrainischen Meisterschaft gebracht – bei den Nicht-Behinderten!
Doch Viktoriia begnügte sich nicht mit diesem großen Erfolg. Statt sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen, setzte sie sich das nächste Ziel und das war wirklich hoch gesteckt: Ihr großer Traum war es, an der Behinderten-Weltmeisterschaft teilzunehmen.
Der ukrainische Taekwondo-Verband erklärte sich bereit, sie zu nominieren, hat aber entschieden, kein Team zur WM zu entsenden. Eine eventuelle Teilnahme musste also selbst finanziert werden. Die Kalkulation der Kosten ergab, dass etwa 3500 Euro aufgebracht werden mussten. Das ist sehr viel Geld, besonders für eine Studentin und ganz besonders in der Ukraine, die mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Jahres-Einkommen von ca. 2000 Euro netto an vorletzter Stelle im europäischen Vergleich liegt.
Dies war aber für die Kämpfernatur, die früh lernen musste, die vielen Schwierigkeiten ihres Alltags zu überwinden, noch lange kein Grund, ihren Traum aufzugeben.
In ihrer Vereinskameradin Yuliya Volkova (32), Europameisterschafts-Dritte 2010 und Gewinnerin etlicher Medaillen bei europäischen A‑Class-Turnieren, hatte sie eine unermüdliche Unterstützerin. Gemeinsam konnten sie mit Hilfe von Freunden und Bekannten in der Ukraine einen Teil des Geldes auftreiben. Am Ende fehlten den beiden kurz vor dem Turnier noch 1300 Euro, um ihren Traum Wirklichkeit werden zu lassen.
In dieser Situation wandte sich Yuliya, die neben Sport und Englisch auch Deutsch studiert hat, an Taekwondo Özer, einen der erfolgreichsten Taekwondo-Vereine Deutschlands. Sie hatte den Chefcoach des Vereins, Özer Güleç, der auch als Disziplinbundestrainer tätig ist, kennen gelernt, als sie vor einigen Monaten zu Trainingslehrgängen an der Sportschule Hennef und bei der Sportfördergruppe der Bundeswehr in Sonthofen hinzugezogen worden war, um Taekwondo Özers Olympiateilnehmerin Sümeyye Manz bei der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele zu unterstützen.
Obwohl der kleine Nürnberger Verein trotz seiner Erfolge über keine festen Sponsoren verfügt, da Taekwondo in Deutschland eine Randsportart ist, war es für die Vereinsführung sofort klar, dass sie den beiden helfen würde. Dies stellte eine außergewöhnliche Chance im Rahmen des Taekwondo-Sports dar, einem Menschen mit einem schweren Schicksal nicht nur seinen Traum zu erfüllen, sondern auch noch die Möglichkeit für eine neue Zukunftsperspektive zu bieten. In den Staaten Osteuropas genießen sportliche Erfolge traditionell ein hohes öffentliches Ansehen. Trotz leerer Staatskassen werden erfolgreiche Sportler oft großzügiger belohnt als im reichen Westen.
Wegen der Dringlichkeit der Angelegenheit beschloss der Vorstand, das Geld vorzuschießen und anschließend mit einer Spendenaktion im Verein zu versuchen, das benötigte Geld aufzubringen. Auch der KSC Leopard, mit dem Taekwondo Özer seit längerem in sportlicher wie auch in sozialer Hinsicht zusammenarbeitet, wird sich daran beteiligen.
Dank der spontanen Hilfsbereitschaft ihrer Freunde aus Deutschland, konnte Viktoriia also ihre Turnierteilnahme bestätigen, die Reise buchen und mit Yuliya, die sie als ihr Coach begleitete, auf das ferne Aruba fliegen.
Aruba ist eine kleine, an der längsten Stelle etwa 30 km lange Insel in der Karibik, die zum Königreich der Niederlande gehört, aber völlige Autonomie genießt.
Die wichtigste Einnahmequelle der ca. 100.000 Einwohner ist der Tourismus. Auf dem einzigen Flughafen Arubas werden jährlich mehrere Millionen Passagiere abgefertigt. Die Unterwasserwelt um die Insel ist ein weltbekanntes Tauchgebiet und wurde schon vor vielen Jahren unter Naturschutz gestellt.
Die 3. Weltmeisterschaft für behinderte Taekwondo-Sportler, die von der WTF (World Taekwondo Federation) zusammen mit dem direkt anschließend stattfindenden Weltpokal für Mannschaften an Aruba vergeben wurde, stellte für den kleinen Inselsaat, der seit 1988 bisher ganze 18 Sportler zu den Olympischen Spielen geschickt hat, ein sportliches Großereignis dar, das im Zentrum der Aufmerksamkeit aller Medien des Landes stand.
An der Behinderten-WM im Taekwondo können vom jeweiligen nationalen Verband nominierte Sportler teilnehmen, deren Armfunktion beeinträchtigt ist. Diese Beeinträchtigung kann von Geburt an, z. B. durch nicht vollständige Ausbildung der Hände oder Arme, vorliegen oder durch Amputation bzw. Lähmung entstanden sein.
Die Wettkämpfe werden in den vier olympischen statt der sonst üblichen acht Gewichtsklassen ausgetragen.
Außerdem gibt es keine Altersklassen, sondern eine Gruppierung nach vier Beeinträchtigungs-Kategorien. Es wird danach unterschieden, ob die Beeinträchtigung an einem Arm oder an beiden Armen vorhanden ist und ob diese unterhalb oder oberhalb des Ellenbogens vorliegt. Ansonsten wird nach den üblichen WTF-Vollkontakt-Regeln gekämpft, mit der Ausnahme, dass Kopftreffer nicht erlaubt sind. Das Mindestalter für die Teilnahme wurde auf 15 Jahre und die Mindestgraduierung auf den dritten Kup (blau-roter Gürtel) festgelegt.
Die größten Teams schickten Russland (16 Sportler) und Aserbaidschan (15 Sportler). Auch der Iran, die Mongolei, Kanada, Brasilien, Frankreich und Spanien waren mit mehreren Sportlern vertreten. Aus Guatemala, Finnland, Großbritannien, Kroatien und Australien nahm jeweils ein Wettkämpfer teil. Deutsche Sportler waren, wie auch bei den beiden vorherigen Behinderten-Weltmeisterschaften, nicht vertreten. Viktoriia war die einzige Starterin aus der Ukraine.
Am Donnerstag, den 22.11.2012 war es dann soweit. Morgens um 9 Uhr Ortszeit begannen die Wettkämpfe der 3. Behinderten-Weltmeisterschaft im Taekwondo.
Mit Siegen im Halbfinale und im Finale, in denen sie auf Gegnerinnen aus Russland traf, nutzte Viktoriia Marchuk die Chance,
die sie sich dank ihres Glaubens an sich selbst, ihrer Entschlossenheit und ihrer Hartnäckigkeit erarbeitet hatte,
und holte sich den WM-Titel!
Da Taekwondo bisher noch nicht zum Programm der Paralympics gehört, hat Viktoriia mit dem Gewinn der Weltmeisterschaft den höchstmöglichen Gipfel des Erfolges für Taekwondo-Wettkämpfer im Behinderten-Sport erreicht.
Taekwondo Özer freut sich mit Viktoriia und Yuliya, gratuliert der neuen Weltmeisterin zu dieser großartigen Leistung und wünscht ihr, dass dieser Erfolg ihr auch zu staatlicher Förderung in der Ukraine verhilft und so dazu beiträgt, ihr Leben etwas einfacher zu gestalten.
Yuliya hat uns nach der WM ein Dankesschreiben geschickt und uns gebeten, es auf unserer Internetseite zu veröffentlichen:
Wir haben uns sehr gefreut, dass wir Viktoriia dabei helfen konnten, sich ihren Traum zu erfüllen!
(24.11.2012 Alfred Castaño)