Vom 13. bis zum 15. Dezember 2013 fand in der nordenglischen Industriestadt Manchester das erste Turnier der neu etablierten „WTF World Taekwondo Grand Prix”-Serie statt. Die WTF (World Taekwondo Federation) möchte mit diesen „Elite-Turnieren” in erster Linie ein höheres Medieninteresse für den Taekwondo-Sport generieren. Dies soll dadurch erreicht werden, dass nur die weltbesten Athleten daran teilnehmen. Deshalb werden die Teilnehmer ausschließlich entsprechend ihrer Position in der WTF-Weltrangliste eingeladen, womit weitgehend sichergestellt werden soll, dass nicht wie so oft von Interessenspolitik geprägte taktische Manöver der nationalen Verbände über die Nominierung entscheiden.
Für die Sportler steht neben der Möglichkeit, sich auf regelmäßigerer Basis als bisher mit der absoluten Top-Konkurrenz zu messen, vor allem die Chance auf eine direkte Qualifikation zu den Olympischen Spielen im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit.
Denn auch der Olympia-Qualifikationsmodus wurde umgestellt. Während sich die meisten Athleten ihr Olympia-Ticket wie bisher über die kontinentalen Qualifikationsturniere erkämpfen müssen, sind die sechs auf der Weltrangliste bestplatzierten Athleten direkt qualifiziert. Für diese Sportler ist die Begrenzung auf maximal zwei weibliche und zwei männliche Teilnehmer je Nation aufgehoben, allerdings darf ein Land jede Gewichtsklasse nur einmal besetzen. In diesem Zusammenhang wurden die Grand Prix Turniere besonders attraktiv mit Weltranglistenpunkten ausgestattet: Die beiden pro Jahr vorgesehenen Grands Prix sind als G4‑, das sogenannte Grand Prix Finale am Ende eines Jahres sogar als G8-Turnier eingestuft.
Die G‑Einstufung drückt aus, wie viele Weltranglistenpunkte die Platzierten erhalten. Bei einem „normalen” G1-Turnier erhalten die Erstplatzierten 10 Punkte, bei einem G8-Turnier 80 Punkte. Die Zweitplatzierten bekommen 60% der Punkte für die Erstplatzierten, die Drittplatzierten 60% der Punkte für die Zweitplatzierten. Bei den meisten Turnieren erhalten nur die Medaillengewinner Weltranglistenpunkte, bei manchen auch die Viertelfinal‑, gelegentlich auch die Achtelfinalteilnehmer und in besonderen Fällen sogar alle angetretenen Wettkämpfer. Erworbene WTF-Weltranglistenpunkte werden übrigens nach einem Jahr um ein Viertel reduziert und sind somit nach vier Jahren komplett verfallen.
Da die Weltrangliste in Bezug auf die Olympia-Qualifikation deutlich an Bedeutung gewonnen hat, wird auf Beschluss der ETU der bekannte A‑Class-Status ab 2014 nur noch für den Poomsae-Bereich (Formenlaufen) beibehalten. Kyorugi-Veranstalter sind stattdessen gehalten, sich um einen G‑Status für ihr Turnier zu bemühen. Der G1- und der G2-Status können von jedem Ausrichter unter Einhaltung bestimmter Vorgaben beantragt werden. Militär- und Studenten-Weltmeisterschaften erhalten automatisch den G1-Status, Universiaden (die Olympischen Spiele der Studenten) sowie Militär-Weltspiele sind als G2-Turniere eingestuft. Kontinentale Meisterschaften (wie die Europameisterschaft) und im Vier-Jahres-Abstand stattfindende kontinentale Sportspiele (wie die Europa-Spiele, die 2015 zum ersten Mal ausgetragen werden) sind wie die Grand Prix Serie G4-Turniere. Den G8-Status haben nur die jährlichen Grand Prix Finals, den G12-Status nur die Weltmeisterschaften und den G20-Status nur die Olympischen Spiele.
Vergabe von Weltranglistenpunkten | |||||||
1. Platz | 2. Platz | 3. Platz | Viertelfinale | Achtelfinale | |||
G1 | Open-Turniere Militär-WM Studenten-WM Mittelmeer-Spiele | 10 | 6 | 3,6 | |||
G2 | Open-Turniere Universiade Militär-Weltspiele | 20 | 12 | 7,2 | 4,32 | ||
G4 | EM Europa-Spiele Grand Prix Serie | 40 | 24 | 14,4 | 8,64 | ||
G8 | Grand Prix Finale | 80 | 48 | 28,8 | 17,28 | 12,1 | |
G12 | WM | 120 | 72 | 43,2 | 25,92 | 18,14 | |
G20 | Olympische Spiele | 200 | 120 | 72 | 43,2 | 30,24 | |
Für die Grand Prix Turniere sind pro Gewichtsklasse die auf der Weltrangliste bestplatzierten 35 Sportler und zusätzlich ein Wettkämpfer aus dem Gastgeber-Land qualifiziert, für die Grand Prix Finals nur die bestplatzierten acht. Zur diesjährigen Grand Prix Premiere, die als Finale gewertet wurde und daher den G8-Status hatte, wurden aber ausnahmsweise 32 Teilnehmer pro Gewichtsklasse eingeladen. Ranglistenpunkte erhielten alle Medaillengewinner sowie die Viertelfinalteilnehmer. Natürlich werden alle Grands Prix in den acht olympischen (vier Damen- und vier Herren-) Gewichtsklassen ausgetragen.
Durch ihre Position auf der Weltrangliste hatten sich für die Grand Prix Premiere insgesamt sieben deutsche Sportler, fünf Damen und zwei Herren, direkt qualifiziert.
Im Einzelnen waren dies Sümeyye Manz, Helena Fromm, Rabia Güleç, Melda Akcan, Katharina Weiss, Sergej Kolb und Tahir Güleç. Nur wenige Tage nach den anderen wurde aufgrund einiger Absagen auch Daniel Manz eingeladen, der sich auf Platz 37 der Weltrangliste befand. Alle acht kämpften für Vereine der Bayerischen Taekwondo Union (BTU), eine für den PSV Eichstätt (Helena), zwei für den KSC Leopard (Melda und Sergej) und fünf für Taekwondo Özer (Sümeyye, Rabia, Katharina, Daniel und Tahir). Allerdings gab es drei Ausfälle im deutschen Team. Helena konnte so kurz nach der Geburt ihres ersten Kindes Ende November selbstverständlich noch nicht antreten. Und Melda sowie Katharina konnten verletzungsbedingt nicht starten.
Sümeyye entschied sich dafür, nur knapp acht Monate nach der Geburt ihrer Zwillinge bereits wieder den Versuch zu wagen, mit den besten Taekwondo-Wettkämpferinnen der Welt mitzuhalten.
Wegen des Ausfalls anderer Sportler in seiner Gewichtsklasse erhielt kurz vor dem Turnier auch noch Volker Wodzich von der TG Allgäu (also ebenfalls BTU) als Nachrücker die Chance, sich wertvolle Weltranglistenpunkte zu erkämpfen. Somit reiste die Deutsche Taekwondo Union (DTU) mit sechs Sportlern aus Bayern nach Manchester. Begleitet wurden sie von den Bundestrainern Carlos Esteves (Damen) und Aziz Acharki (Herren), dem Physiotherapeuten Thorsten Bartel sowie dem DTU-Vizepräsidenten Musa Çiçek und dem DTU-Sportdirektor Holger Wunderlich. Die Disziplinbundestrainer Özer Güleç und Nurettin Yılmaz, aus deren Vereinen fünf der sechs deutschen Teilnehmer stammten, wurden für dieses wichtige Turnier allerdings nicht von der DTU eingeteilt und hatten somit, falls sie ihre Sportler vor Ort unterstützen wollten, die Reise und die Unterkunft selbst zu finanzieren. Neben unserem Chefcoach feuerten seine Ehefrau Hayat, sowie unsere Sportler Katharina Weiss und Tayfun Yilmazer ihre Freunde und Vereinskameraden live an.
231 Athleten aus 59 Ländern nahmen am ersten Grand Prix Turnier teil. Ausgetragen wurde es in der beeindruckenden Manchester Central, einer unter Denkmalschutz stehenden ehemaligen Bahnhofshalle, die in den 80er Jahren zu einem Konzert- und Veranstaltungszentrum umgebaut worden ist und nach einer umfassenden Renovierung vor einigen Jahren heute mit über 10.000 Sitzplätzen bestuhlt werden kann.
Die Wettkämpfe wurden mit dem elektronischen Wertungssystem von Dae do auf vier Matten ausgetragen. Alle Halbfinal- und Finalkämpfe fanden auf Matte 1 statt, die in ungewohntem Schwarz-Weiß- oder genauer Grau-Beige-Design gehalten war, wodurch ein angenehmeres Fernsehbild ermöglicht werden sollte.
Wie schon bei der EM 2012, die ebenfalls in Manchester stattgefunden hatte, stellten die britischen Veranstalter auf beispielhafte Weise sicher, dass sich die Taekwondo-Fans weltweit über den Verlauf des Turniers informieren konnten. Trotz der kommerziellen Verwertung des als internationales Top-Sportevent angelegten Turniers – ein Eintrittskartenpaket für alle drei Wettkampftage schlug mit etwa 70 bis 80 Euro zu Buche und die Rechte für die TV-Übertragung konnten wie geplant an viele internationale Fernsehsender verkauft werden (wie zu lesen war, sollen die Finalkämpfe in 98 Ländern live ausgestrahlt worden sein) – wurden Live-Streams von allen vier Wettkampfflächen angeboten sowie anschließend auf YouTube gespeichert. Auch bei den Details glänzten die Briten mit ungewohntem Service: In der Wettkampfhalle konnten alle Besucher einen kostenlosen Internetzugang über WLAN (WiFi) nutzen.
Einige der erwarteten Taekwondo-Stars wie Servet Tazegül oder Joel Gonzalez konnten verletzungsbedingt nicht teilnehmen. Auffällig war auch die vollständige Abwesenheit kubanischer Sportler. Fünf Vertreter der Karibik-Insel hatten sich qualifiziert, unter anderem zwei aktuelle Weltmeister. Wie nach dem Turnier vom Präsidenten der Kubanischen Taekwondo Föderation zu erfahren war, konnte das kurzfristig neu geschaffene Turnier nicht mehr im Jahresbudget des kommunistischen Landes berücksichtigt werden. Die WTF, die eigentlich angekündigt hatte, bei solchen Fällen mit finanzieller Unterstützung einzuspringen, sei dann aber doch nicht bereit gewesen, die Flugtickets der Kubaner zu bezahlen. Wie durch die Auswahl der Teilnehmer streng nach ihrer Weltranglistenposition nicht anders zu erwarten war, gab es für die Zuschauer viele hochinteressante Wettkämpfe zu sehen.
Bei den Damen standen die Spanierinnen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die inzwischen 32-jährige „Königin des Taekwondo” Brigitte Yagüe, die im Laufe ihrer langen Karriere beachtliche sieben WM- (4 x Gold, 2 x Silber und 1 x Bronze) und sieben EM-Medaillen (4 x Gold, 1 x Silber und 2 x Bronze) sowie Silber bei den Olympischen Spielen von London für sich verbuchen konnte, sich aber seit der Olympiade vom aktiven Wettkampfsport zurückgezogen hatte, kehrte mit einem Paukenschlag auf die Weltbühne zurück, besiegte unter anderem im Finale die aktuelle Weltmeisterin und holte sich in Sümeyyes Gewichtsklasse Gold.
Für noch mehr Aufsehen sorgte nur Eva Calvo (22), aktuelle Studenten-Weltmeisterin, Universiade-Zweite und WM- sowie EM-Dritte, als sie den Traum der Briten auf den Gesamtsieg bei der heimischen Grand Prix Premiere zunichtemachte, indem sie im Finale den britischen Superstar Jade Jones (20), Goldmedaillengewinnerin bei den Olympischen Spielen von London und der Jugend-Olympiade in Singapur, zweifache WM-Zweite und zweifache EM-Dritte, besiegte.
Aber auch Rabia zeigte durch einen Sieg über die favorisierte Türkin Nur Tatar, Olympia-Zweite 2012 und sechsfache EM-Medaillengewinnerin (4 x Gold, 1 x Silber und 1 x Bronze), ihre Klasse. Später schied sie dann im Viertelfinale gegen die Russin Anastasiia Baryshnikova, Olympia-Dritte 2012, dreifache Europameisterin und zweifache WM-Dritte, aus.
Bei den Herren wurde mit großer Spannung vor allem der als „Battle of Britain” angekündigte Zweikampf zwischen Aaron Cook (22), fünffacher Europameister, Weltmeister und WM-Dritter, und Lutalo Muhammad (22), Olympia-Dritter und aktueller Europameister, dessen überraschende Nominierung für die Olympischen Spiele 2012 zum vielbeachteten Bruch Aaron Cooks mit dem britischen Verband geführt hatte, erwartet.
Cook traf aber zuvor noch auf Altmeister Steven Lopez (35), zweifacher Olympia-Sieger, Olympia-Dritter und Rekordweltmeister mit sechs WM-Titeln. Cook konnte diese Hürde auf dem Weg zum vielerwarteten Duell zwar überwinden, danach machte ihm aber der Russe Albert Gaun, aktueller WM- und EM-Zweiter sowie Studenten-Weltmeister, im Halbfinale durch einen Sieg in der Golden-Point-Runde einen Strich durch die Rechnung. Im Finale musste dann Lutalo Muhammad mit dem Russen ebenfalls in die Golden-Point-Runde, die er aber, sehr zur Freude der britischen Zuschauer, für sich entscheiden konnte.
Die deutschen Sportler blieben ohne Medaille und damit hinter den Erwartungen aufgrund der jüngsten WM-Erfolge zurück. Sümeyye schied ebenso wie Sergej, ihr Ehemann Daniel und ihr gesundheitlich angeschlagener Bruder Tahir gleich im ersten Kampf aus. Sümeyye unterlag dabei der späteren Bronze-Medaillengewinnerin, Daniel dem späteren Erstplatzierten. Nur Rabia und Volker konnten zwei Kämpfe gewinnen und damit das Viertelfinale erreichen, wodurch sie sich ganze 17,28 Weltranglistenpunkte sicherten, also fast doppelt so viele wie für eine Goldmedaille bei einem G1-Turnier vergeben werden!
In der Nationenwertung belegte Russland Platz 1 vor Gastgeber Großbritannien und Spanien. Diese drei Länder konnten als einzige je zwei Goldmedaillen gewinnen, Russland eine bei den Damen und eine bei den Herren, Großbritannien zwei bei den Herren und Spanien zwei bei den Damen. Auf den Plätzen vier und fünf folgten Taiwan und Schweden, die jeweils eine Goldmedaille verbuchen konnten. Nach der machtvollen Rückkehr Südkoreas auf Platz eins der Mannschaftswertung bei der diesjährigen Weltmeisterschaft, konnte das erfolgsverwöhnte Mutterland des Taekwondo bei der Grand Prix Premiere trotz seiner 14 Teilnehmer nur den sechsten Platz belegen – ohne sich eine einzige Goldmedaille erkämpft zu haben.
Glückwunsch an Rabia und Volker zum Erreichen des mit wertvollen Weltranglistenpunkten dotierten Viertelfinales!
WTF World Grand Prix Premiere 2013 in Manchester, Großbritannien, von Freitag, 13.12.2013 bis Sonntag, 15.12.2013: | ||
Sümeyye Manz | D‑49 | - |
Rabia Güleç | D‑67 | - |
Daniel Manz | H‑68 | - |
Tahir Güleç | H‑80 | - |
(23.12.2013 Alfred Castaño)